Friedhelm Weischedel: Kleine Philosophie für Nichtphilosophen

Friedhelm Moser: Kleine Philosophie für Nichtphilosophen. München: Beck, 2. Aufl. 2002, S. 210-218.
 
Je weiter man in der Philosophie gekommen ist, desto begieriger wird man auf das, was daran noch fehlt. (Plutarch) Der Werbespot für eine intelligente
Kaffeemaschine blubbert: Unsere Philosophie heißt Innovation! Von solcher Philosophie ist hier natürlich nicht die Rede. Auch nicht von derjenigen Abteilung der Universitätsphilosophie, die Philosophenmumien
seziert und daher korrekterweise philosophische Pathologie heißen sollte. (Man unterscheidet
zwischen Kunst und Kunstgeschichte, zwischen Literatur und Literaturgeschichte. Nur die
Universitätsphilosophie vermischt das lebendige Denken mit der Leichenbeschau.) Nein, wir wollen
weder Designer-Gesülze noch akademische Nekrophilie. Wir wollen das, was Philosophie
ursprünglich einmal war ...

Frühling im Land von Ouso und Metaxa. Die Hotels sind belegt oder zu teuer. Ich schaue mich um: Die Luft ist rein. Ich werfe meinen Schlafsack über den mannshohen Maschendrahtzaun und klettere hinterher. Eins, zwei - Sprung und knackende Landung im Gestrüpp. Geisterstädte sind unheimlich. Aber eine Götterstadt im Mondlicht ist auch nicht zu verachten, was den Gruselfaktor angeht. Ob die Ausgrabungsstätten nachts bewacht werden? Vielleicht lässt man ja nach Toresschluss ein paar Bluthunde innerhalb der Umzäunung frei, und ich werde gleich in Fragmente zerrissen wie der Vorsokratiker Aktaion?

Mit gemischten Gefühlen wage ich mich aus dem Schutz der Bäume. Vor mir liegt menschenleer, im
Mondschein verschimmelt, das Heiligtum von Olympia, zur Rechten die schattigen Ruinen der Tempel und Schatzhäuser, zur Linken das lang gestreckte Stadion. Ich betrete das Stadion durch den Torbogen und suche mir einen Platz auf dem Rasenwall, der als Zuschauertribüne dient. Vor 2750 Jahren sind hier zum ersten Mal Athleten aus ganz Hellas um die Wette gelaufen, und von diesem Ereignis an - 776 v. Chr. -
zählten die alten Griechen die Jahre. Ich sitze allein mit meinen Gedanken an der Wiege des Sports und am Startpunkt der abendländischen Zeitrechnung - im Land von Herakles und Pindar, an der Quelle der abendländischen Philosophie ...

Als die Philosophie das Licht der Welt erblickte, staunte sie zuerst einmal - über sich selbst. Wer bin ich? fragte sie sich. Und was mache ich hier? Da sie in Griechenland geboren wurde, stellte sie den folgenden Vergleich an: Die Welt ist ein Stadion. Da gibt es die
Athleten, die auf der Laufbahn um Sieg und Ehre wetteifern; vor dem Stadion und auf den Tribünen
versuchen Oliven- und Wasserverkäufer, ihren Lebensunterhalt zu verdienen; und schließlich
sind da die Zuschauer, die gelassen oder interessiert das Treiben beobachten. Letztere sind mit den Philosophen gleichzusetzen. Die Philosophie betrachtet das aktive Leben aus der Distanz, überschaut das Ganze, bildet sich eine Meinung, und ihre Leidenschaft ist die Fachsimpelei.

Der altehrwürdige Vergleich humpelt gewaltig. Es stimmt zwar, dass Philosophie viel mit Schauen zu tun hat das griechische Wort für Schau ist theoría -, doch etwa die Hälfte der philosophischen Schau ist Nabelschau. Die Philosophie kommt aus dem Staunen über sich selbst nicht heraus bzw. sie kehrt immer wieder dorthin zurück. Man kann das als permanente
Identitätskrise auslegen oder als Positionsbestimmung, wie sie ein Kapitän auf hoher See regelmäßig vornehmen muss.

Gleichviel, wir müssen uns den philosophischen Stadionbesucher jedenfalls so vorstellen, dass
er in der einen Hand ein Fernglas hält, durch das er Läufer und Verkäufer observiert, in der anderen Hand einen Spiegel, mit dessen Hilfe er sich beim Zuschauen zuschaut.

In einer anderen Hinsicht trifft der Vergleich ins Schwarze: Den Zuschauern genügt die reine Schaulust nicht. Wer bei einem Wettrennen
zuschaut, ohne mitzugehen, verpasst das Wesentliche. Ein echter Fan geht mit, jubelt mit
und leidet mit. Auch die Philosophie hält es nicht auf den Sitzen. Weltbetrachtung als Selbstzweck das - mag für ein paar stoische Kaltblüter die Lösung sein. Dem Gros der Philosophen erscheint das Zuschauen als die notwendige Vorstufe zur Weltverbesserung bzw. zur Veredelung des Menschen, und sie sind mit
heißem Herzen dabei. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern, schrieb Karl Marx, so als verkünde er damit eine sensationelle Neuigkeit. In Wirklichkeit ist die Philosophie seit jeher revolutionär und utopisch gewesen.

Ein Samenkorn kann zu einem Baum heranwachsen und mit seinen Wurzeln Felsen zersprengen. Eine
Glasscherbe, die das Sonnenlicht auf ein trockenes Blatt bündelt, kann einen verheerenden Waldbrand auslösen. Ein Gedanke, von einem Sonderling im stillen Kämmerlein ausgebrütet, kann die Welt auf den Kopf stellen. Der Tatmensch sieht gewöhnlich auf die grüblerischen Nichtstuer herab, wenn er sie überhaupt
wahrnimmt. Dabei führt er vielleicht gerade dasjenige unbewusst aus, was die Grübler und Zweifler früherer Generationen als Möglichkeit entworfen haben. Wer die Gefühle und Gedanken beherrscht, beherrscht die Menschen. Das weiß niemand besser als die Mächtigen, und deshalb haben sie die Philosophen immer mit Argwohn betrachtet, sie außer Landes gejagt oder als prestigeträchtige Hofnarren angeheuert. Einige der berühmtesten Denker entkamen nur knapp dem Märtyrertod - oder auch nicht.

Warum wurde Sokrates hingerichtet? Weil er eine Quasselstrippe war und die Leute von der Arbeit
abhielt? Da wäre der Schierling bald knapp geworden in Athen. Die offizielle Anklage lautete: Sokrates vergeht sich, indem er die jungen Leute verdirbt und nicht dem Brauch gemäß die Götter verehrt, welche die Stadt verehrt, dafür aber andere, neue göttliche Wesen. Kurz: Man beschuldigte ihn der geistigen
Brandstiftung. Dieser Vorwurf wird ja gern gegen jene erhoben, die sich als moralische Feuerwehr verstehen.
 
Platon fand sich eines Tages auf dem Sklavenmarkt der Insel Aigina wieder - als Sonderangebot! Nur dem Zufall hatte er es zu verdanken, dass sich ein alter Freund von ihm auf dem Markt einfand, der ihn für zweitausend Drachmen ersteigerte und nach Athen
zurückbrachte. In diese prekäre Lage war der Philosoph durch sein politisches Engagement
gekommen. Er hatte Dionysios I. von Syrakus (bekannt als der finstere Wüterich aus Schillers
Bürgschaft) kritisiert, eine Regierung dürfe sich nicht von selbstherrlichen Launen leiten lassen. Dionysios gab die tyrannentypische Antwort: Das sollst du am Kreuze bereuen? Erst auf Zureden seiner Ratgeber begnadigte er den Philosophen und ließ ihn auf den Sklavenmarkt verfrachten.

Auch Voltaires Flirt mit der Macht hätte fast einen tragischen Ausgang genommen. Jahrelang hatte er mit Friedrich dem Großen überschwengliche Huldigungsbriefe gewechselt. 1736 schrieb Friedrich, zu jener Zeit noch Kronprinz von Preußen, an sein Idol: Sie zeichnen, Monsieur, in ihrem Brief das Bild
eines vollendeten Fürsten, in dem ich mich nicht wieder erkenne ... Ich werde mir dieses Bild als
Modell vor Augen halten und alle Anstrengungen unternehmen, um würdiger Eleve eines Meisters zu
sein, der so göttlich zu unterrichten versteht. Als Voltaire Jahre später Friedrichs Einladung nach Potsdam annahm, musste er feststellen, dass Philosophie und Macht zwei Paar Stiefel sind. Er
ergriff schließlich die Flucht. Friedrichs Schergen erwischten ihn jedoch kurz vor der französischen Grenze, warfen ihn ins Gefängnis und plünderten ihn weidlich aus. Am Ende musste er noch froh sein, dass man ihn und seine Lebensgefährtin mit heiler Haut ziehen ließ.

Die Philosophen - egal, ob sie sich als Erzieher der Mächtigen profilierten oder als Erzieher des Menschengeschlechts - haben sich stets gern in
die Politik eingemischt. Wenn wir am Bild des Olympiastadions festhalten, so entsprechen sie
am ehesten den Trainern und, Kampfrichtern, die zwar zuschauen, aber nicht als Unbeteiligte. Sie sehen ihre Aufgabe darin, ihre Favoriten nach vorn zu bringen bzw. über den regelgerechten Verlauf der Spiele zu wachen.

Und dann gibt es auf den Rängen sonderbare Leute, die sich weniger für die Sportveranstaltung interessieren als für ihre Ferngläser. Wie kommt es, dass man alles größer sieht, wenn man durch die Okulare schaut? Warum schrumpft alles zusammen, wenn man das Fernglas umdreht? Wie groß sind die Läufer in Wirklichkeit? Wie funktioniert das Fernglas? Wie funktioniert das Auge? Wie funktioniert das
Gehirn? Wer so fragt, ist ein Erkenntnistheoretiker.

Andere Spezialisten haben Statistiken von früheren Spielen dabei. Sie vergleichen die aktuellen Ergebnisse damit und streiten darüber, ob es mit dem Sport bergab oder aufwärts gehe. Das sind die Geschichtsphilosophen. Ein paar Sonderlinge behaupten, man könne die Spiele am besten mit geschlossenen Augen würdigen. Das sind die Mystiker.
 
Die Interessen auf der Tribüne sind so vielfältig wie die Aktivitäten auf dem Rasen. Ursprünglich gab es bei den Olympischen Spielen nur einen Wettbewerb, den Stadionlauf. Heute kann man die Einzelentscheidungen kaum noch zählen. Ähnlich dynamisch verlief die
Entwicklung in der Philosophie: Zur sogenannten Praktischen Philosophie rechnet man alles, was
sich auf das menschliche Leben bezieht: Anthropologie (Menschenkunde), Politische Philosophie, Rechtsphilosophie und Ethik, Religionsphilosophie, Eudämonologie (Lehre vom Glück), Geschichtsphilosophie und dergleichen. Die Theoretische Philosophie ergründet das Sein und die Wahrheit; sie umfasst Logik, Wissenschaftstheorie Sprachphilosophie, Ontologie (Lehre vom Sein) und dergleichen.

Innerhalb jeder Disziplin gibt es wiederum zahlreiche verschiedene Richtungen mit zum Teil abenteuerlichen Namen. Zur Erkenntnistheorie gehören beispielsweise der Deduktivismus, der Induktivismus, der Fallibilismus, der Empiriokritizismus, der Pragmatismus. die
evolutionäre Erkenntnistheorie und andere. Wenn man genau hinsieht, lässt jeder originelle Kopf einen neuen Zweig am mächtigen Baum der Philosophie hervor sprießen, und an jedem Zweig wachsen Blätter, die bleichen, fußnotenreichen Blätter der Sekundärliteratur. Der Baum beeindruckt durch sein Alter und seinen Umfang, und doch werden Stimmen laut, die behaupten, der Stamm sei hohl, in den Früchten säße der Wurm und überhaupt sei der Baum nichts als ein gigantisches Unkraut.

Das 20. Jahrhundert war für die Philosophie ein einziges Desaster. Während die Naturwissenschaften atemberaubende Fortschritte feierten, mussten die Philosophen den Offenbarungseid leisten. Alles, was sie Darwin, Einstein, Freud, Turing, Crick und Watson
entgegenzusetzen hatten, waren ein paar Esoteriker, die ihren Jargon pflegten. Die Großversuche, den Marxismus in praktische Politik umzusetzen, forderten Millionen von Opfern und endeten in kultureller Stagnation und wirtschaftlichem Zusammenbruch. Die
Weltverbesserer schufen die Hölle auf Erden. Rousseau, Schopenhauer und Nietzsche wurden von
den Psychoanalytikern vorgeführt. Zwei der bedeutendsten Philosophen des Jahrhunderts,
Wittgenstein und Popper erklärten den Bankrott der traditionellen Philosophie. 2500 Jahre Philosophie - eine groteske Chronik von Fehlschlüssen und mangelnder Sprachkompetenz? 2500 Jahre Philosophie - auf den Müll? Gemach.

Die Wirklichkeit kann auch ganz anders aussehen, und das gleich in dreierlei Hinsicht. Zum einen kann die Philosophiegeschichte auch als glänzende Erfolgsstory gelesen werden. Ursprünglich nämlich umfasste die Philosophie Disziplinen wie Physik, Kosmologie, Psychologie, Soziologie usw. Erst als mit dem 18. Jahrhundert das gesammelte Wissen unüberschaubar wurde, entließ die Philosophie ihre Töchter nach und
nach in die Selbständigkeit. Die Töchter haben ihre eigenen Methoden entwickelt und Karriere gemacht. Auf die Kommentare der altmodischen Mutter reagieren sie mit pubertärer Gereiztheit. Am liebsten würden sie ihre Abstammung verleugnen. Dabei hat der Vorsokratiker Demokrit die Atomtheorie entworfen, der Scholastiker Grosseteste den Urknall beschrieben und Leibniz nicht nur die beste aller möglichen Welten,
sondern auch den Computer erfunden.

Zum zweiten sollte man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Naturwissenschaft ist ihrem Wesen
nach unpersönlich: Ein Untersuchungsergebnis kann erst dann Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen, wenn andere Forscher beim selben Experiment zu demselben Ergebnis kommen.

Philosophie dagegen lebt von Typen wie Diogenes, Nietzsche und Feyerabend, die ihre sehr
persönliche und unkonventionelle Sicht der Dinge kultivierten. Philosophie hat deshalb viel mit
Kunst und Literatur gemein. Und gibt es in diesen Bereichen etwa einen Fortschritt? Ist Bernhard weiter als Shakespeare? Ist Baselitz der Höhlenmalerei überlegen?

Schließlich zeigt sich der Wert der Philosophie in erster Linie im subjektiven Erleben. Dort wo die Gedanken nicht ein gesichtsloses Produkt des Geistes sind, sondern Ausdruck und Abdruck einer einzigartigen Persönlichkeit, entfaltet Philosophie ihre ganze, das Leben veändernde Wucht. Die Selbstbestimmung des Subjekts in der existenziellen Entscheidung wirkt mächtiger als jede abstrakte Wahrheit. Das Allgemeingültige ist gleichgültig im Angesicht von Krankheit, Liebe, Tod und Schuld. Im subjektiven
Philosophieren dreht sich alles um die Frage: Wer will ich sein? Der Bergsteiger hat kein großes Interesse daran, dass die Achttausender von irgendwem bezwungen werden. Er selbst will es sein, der sie
bezwingt. Nicht das Faktum zählt, sondern das Erlebnis. Jeder bezwungene Gipfel ist auch ein Sieg über sich selbst, ein Schritt über die eigenen Grenzen, der neue Horizonte öffnet.

Nicht anders ergeht es dem Philosophen
bei seinem Denksport. Womit wir wieder in Olympia wären. Ich steige von der Tribüne und laufe einmal im Stadion hin und zurück. Der Mond ist eine kaputte Stoppuhr. Aber wen interessiert schon die genaue Zeit? Dabei sein ist alles. Auch in der Philosophie.
Ich rolle in einem Mauergeviert, über dem sich einmal das Schatzhaus von Gela erhoben hat, meinen Schlafsack aus.

Friedhelm Moser, 1954-1999, studierte
Altphilologie und Philosophie. Nach dreizehn
Jahren im Schuldienst konzentrierte er sich ganz
auf die Schriftstellerei. So veröffentlichte er
mehrere erfolgreiche Bücher, unter anderem Der
philosophische Flohmarkt (1995) und Alles am
Weibe ist ein Rätsel (1998).