Karl Jaspers: Über das Studium der Philosophie

Im Philosophieren handelt es sich um das Unbedingte, Eigentliche, das gegenwärtig wird im wirklichen Leben. Jeder Mensch als Mensch philosophiert. Aber gedanklich im Zusammenhang ist dieser Sinn keineswegs in schnellem Zugriff zu erreichen. Das systematische philosophische Denken erfordert ein Studium. Dieses Studium schließt in sich drei Wege:

Erstens: Die Teilnahme an wissenschaftlicher Forschung. Diese hat ihre beiden Wurzeln in der Naturwissenschaft und in der Philologie und verzweigt sich in eine schwer übersehbare Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Fächer. Durch Erfahrung in den Wissenschaften, ihren Methoden, ihrem kritischen Denken wird eine wissenschaftliche Haltung erworben, die unerlässliche Voraussetzung ist für die Wahrhaftigkeit im Philosophieren.

Zweitens: Das Studium großer Philosophen. Man findet zur Philosophie nicht ohne den Weg über ihre Geschichte. Dieser Weg ist für den Einzelnen gleichsam ein Hinaufranken am Stamme großer originaler Werke. Aber dieses Hinaufranken gelingt nur aus dem ursprünglichen Impuls gegenwärtigen Dabeiseins, aus dem eigenen Philosophieren, das im Studium wach wird.

Drittens: Die alltägliche Gewissenhaftigkeit der Lebensführung, der Ernst der entscheidenden Entschlüsse und das Übernehmen dessen, was ich
getan und erfahren habe.

Wer einen der drei Wege versäumt, kommt nicht zu klarem und wahrem Philosophieren. Darum sind die
Fragen für jeden, zumal jeden jungen Menschen, in welcher bestimmten Gestalt er diese Wege gehen will; denn er kann das auf ihnen Mögliche nur zum kleinen Teil selbst ergreifen. Es sind die Fragen: Welche bestimmte Wissenschaft will ich fachmäßig aus dem Grunde kennen zu lernen versuchen? Welchen der großen Philosophen will ich nicht nur lesen, sondern erarbeiten? Wie will ich leben?

Die Antwort kann nur ein jeder für sich selbst finden. Sie darf nicht als nur bestimmender Inhalt fixiert werden, nicht in der Bestimmtheit endgültig und nicht äußerlich sein. Zumal die Jugend muss sich auch noch im Stande der Möglichkeit und des Versuchens bewahren. Daher gilt: Entschieden zugreifen, aber nicht festrennen, sondern prüfen und korrigieren, dies aber nicht zufällig und beliebig, sondern mit dem Gewicht, das entsteht, wenn alles Versuchte bleibt und fortwirkt und die Folge ein Aufbau wird.
Lese ich, so will ich zunächst verstehen, was der Autor gemeint hat. Jedoch um zu verstehen, was gemeint ist, muss man nicht nur die Sprache, sondern die Sache verstehen. Das Verständnis ist von der Sachkunde abhängig. Im philosophischen Studium ergeben sich dabei wesentliche Grunderscheinungen: Wir wollen mit dem Verstehen der Texte die
Sachkunde erst erwerben. Daher müssen wir an die Sache selbst denken und zugleich an das, wie es
der Autor gemeint hat. Eines ohne das andere macht die Lektüre ergebnislos.

Indem ich beim Studium des Textes selber an die Sache denke, geschieht im Verstehen eine unwillkürliche Umformung. Daher ist zu rechtem Verständnis beides notwendig: Vertiefung in die
Sache und Rückkehr zum klaren Verstehen des vom Autor gemeinten Sinnes. Auf dem ersten Weg
erwerbe ich die Philosophie, auf dem zweiten die historische Einsicht.

Bei der Lektüre ist zunächst eine Grundhaltung erforderlich, die aus dem Vertrauen zum Autor
und aus der Liebe zu der von ihm ergriffenen Sache erst einmal liest, als ob alles im Text Gesagte wahr sei. Erst wenn ich mich ganz habe hinreißen lassen, dabei war und dann aus der Mitte der Sache gleichsam wieder auftauche, kann sinnvolle Kritik einsetzen.

In welchem Sinne wir Geschichte der Philosophie studieren und vergangene Philosophie uns aneignen, mag erörtert werden am Leitfaden der drei Kantischen Forderungen: Selbstdenken; an der Stelle jedes anderen denken; mit sich selbst einstimmig denken. Diese Forderungen sind unendliche Aufgaben. Jede vorwegnehmende Lösung, als ob man es schon hätte oder könnte. ist eine Täuschung; wir sind immer auf dem Wege dahin.

Die Geschichte hilft auf diesem Wege. Selbstdenken erfolgt nicht aus dem Leeren heraus. Was wir selbst denken, muss uns in der Tat gezeigt werden. Die Autorität der Überlieferung erweckt in uns die vorweg
geglaubten Ursprünge durch die Berührung mit ihnen in den Anfängen und in den Vollendungen des historisch gegebenen Philosophierens. Alles weitere Studium setzt dieses Vertrauen voraus. Ohne es würden wir die Mühe des Plato-, des Kantstudiums nicht auf uns nehmen.

Das eigene Philosophieren rankt sich gleichsam hinauf an den historischen Gestalten. Im Verstehen ihrer Texte werden wir selber Philosophen. Aber diese Aneignung ist im vertrauenden Folgen nicht Gehorsam. Sondern im Mitgehen prüfen wir am eigenen Wesen. Gehorsam heißt hier sich der Führung anvertrauen, erst einmal für wahr halten; wir sollten nicht gleich
und jederzeit mit kritischen Reflexionen dazwischen fahren und nicht durch sie den wirklichen eigenen Gang unter der Führung lähmen. Gehorsam heißt weiter der Respekt, der sich billige Kritik nicht erlaubt, sondern nur eine solche, die aus eigener und umfassender Arbeit, der Sache Schritt für Schritt näher kommt und dann ihr gewachsen ist. Der Gehorsam findet seine Grenze darin, dass als wahr
anerkannt nur das wird, was im Selbstdenken zu eigener Überzeugung werden konnte. Kein
Philosoph, auch nicht der größte, ist im Besitz der Wahrheit. Amicus Plato, magis amica veritas.
Wir kommen zur Wahrheit im Selbstdenken nur, wenn wir unablässig bemüht sind, an der Stelle eines jeden anderen zu denken. Man muss kennen lernen, was dem Menschen möglich ist. Indem man ernstlich zu denken versucht, was der andere gedacht hat, erweitert man die Möglichkeiten der eigenen Wahrheit auch dann, wenn man sich dem anderen Denken verweigert. Man lernt es nur kennen, wenn man es wagt, sich ganz in es zu versetzen. Das Ferne und Fremde, das Äußerste und die Ausnahme, ja das Absonderliche ziehen an, um nicht durch Auslassen eines Ursprünglichen, durch Blindheit oder Vorbeisehen
die Wahrheit zu verfehlen. Daher wendet sich der Philosophierende nicht nur dem zunächst
gewählten Philosophen zu, den er als den seinen ganz und restlos studiert, sondern auch der universalen Philosophiegeschichte, zu erfahren, was war und gedacht wurde.

Die Zuwendung zu der Geschichte bringt Zerstreuung in das Vielfache und Unverbundene. Die Forderung, jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken, geht gegen die Verführung, sich im Anblick des Bunten allzu lange der Neugier und dem Genuss der Betrachtung
hinzugeben. Was geschichtlich aufgenommen wird, soll Anreiz werden; es soll uns entweder aufmerksam machen und erwecken oder in Frage stellen. Es soll nicht gleichgültig nebeneinander hergehen. Was nicht schon faktisch in der Geschichte in Beziehung und Austausch untereinander gekommen ist, soll von uns
miteinander zur Reibung gebracht werden. Das sich Fremdeste soll auf einander Bezug gewinnen. Alles kommt dadurch zusammen, dass es in dem einen Ich des Verstehenden aufgenommen wird. Mit sich einstimmig werden, heißt, das eigene Denken zu bewähren dadurch, dass das Getrennte, Gegensätzliche, Sichnichtberührende auf ein Eines bezogen wird. Die Universalgeschichte, sinnvoll angeeignet, wird zu einer wenn auch immer offenen Einheit. Die Idee der Einheit der Philosophiegeschichte, ständig in der Realität scheiternd, ist das Vorantreibende in der Aneignung.