Leben leben

Kursleiter
Dr.phil.Katrin Platzer und Dr.phil.Markus Thiemel

„Wir sind in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen. Aber, uns schon für moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel.“(Immanuel Kant)

Vorphilosophische und philosophische Ethik
Der Begriff „Ethik“ leitet sich von dem zugrundeliegendem Wort „ethos“ her und beinhaltet im wesentlichen drei Bedeutungen: Es bezeichnet erstens den gewohnten Ort des Lebens, zweitens auch die Gewohnheiten, die an diesem Ort gelebt werden, und drittens – als personale Entsprechung zu den sozialen Gewohnheiten–– die Denkweise und Sinnesart, den Charakter. Wir unterscheiden zwischen Ethik und Moral. Ethik ist der nachdenkliche, kritische und begründende Umgang mit den Inhalten von Moral. Unter Moral verstehen wir, was in einer Gesellschaft für gut und richtig gehalten wird.

Ethik als philosophische Disziplin geht auf Aristoteles, den griechischen Philosophen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts zurück. Aristoteles (384-324 v. Chr.) unterschied zwischen der theoretischen und praktischen Philosophie, letztere umfaßt Ethik, Politik und Ökonomie. Aristoteles hielt die ersten Vorlesungen über philosophische Ethik, in denen die normativen Probleme, die sich in den individuellen und gesellschaftlichen Bereichen des menschlichen Lebens stellen, aufgegriffen und unter der Leitidee eines humanen, guten und gerechten Lebens reflektiert wurden.

Die Ethik hat eine doppelte Aufgabe, eine deskriptive und eine normative. Die beschreibende Aufgabe besteht darin, sich die Inhalte der geltenden und gelebten Moralen bewußt zu machen. Hierzu gehört es, die ethischen Entwürfe auf Geschichte und Gegenwart darzustellen, ihre Argumentationsweisen zu ordnen und in Beziehung zueinander zu setzen. Die normative Aufgabe verlangt, die überkommenen moralischen Gebote und Prinzipien zu überprüfen, welche moralischen Traditionen den Erfordernissen der Zeit entsprechen, und sie möglicherweise weiterzuentwickeln.

Ethik ist kein zeitloses, sondern ein historisches Phänomen. Sie ist nie einheitlich gewesen, sondern lebte von oder litt unter der Spannung zwischen unterschiedlichen Entwürfen. Man kann mit Blick auf die geschichtliche Entwicklung zwei Grundformen ethischer Reflexion unterscheiden: In der vorphilosophischen Ethik begegnet uns die Ethik als eine Lebensweisheit, die in religiösen bzw. göttlichen Geboten oder aber in sogenannten Klugheitsregeln formuliert wird, die sowohl das persönliche als auch das gemeinschaftliche Leben betreffen.

Die philosophische Ethik wird durch Situationen der Krise und der Kritik herausgefordert. Wenn sie auf diese Herausforderungen antwortet, tritt sie als praktische Philosophie auf den Plan. Sie kann weder das von alters her Gewohnte und Bewährte bestätigen noch einfach einen Gegenentwurf vorlegen. Den Blick fest auf die leitende Idee eines sinnvollen Lebens gerichtet, sucht sie auf methodischem Weg und ohne Berufung auf religiöse oder politische Autoritäten allgemein gültige Aussagen zu treffen. Dadurch reicht sie über die geschichtliche Situation, durch die sie herausgefordert wird, weit hinaus.

Die Ethik befaßt sich vor allem mit den Fragen: „Was ist das Gute?“ und „Was soll ich tun?“ Hier geht es also um Regeln (Normen) und deren Grundsätze, um uneingeschränkt gültige (kategorische) Imperative und ebensolche Pflichten, es geht um Gut und Böse und auf die entsprechenden Fähigkeiten, d.h. die Willens- und nicht nur Handlungsfreiheit. Im Vordergrund stehen die Fragen: „Wer will ich sein? Wie will ich leben?“ und „Was ist eine gelungene, eine glückende und glückliche Existenz?“ Und: „In welcher Umgebung wollen wir und sollen wir leben?“

Technik und Wissenschaft beeinflussen heute unser Leben in einem nicht gekanntem Umfang und Ausmaß. In den Mittelpunkt der philosophischen Ethik sind darum nach und nach Themen der angewandten Ethik gerückt. Eine gegenwartsnahe Ethik kann nicht ohne Bezug auf die zeitgenössischen Humanwissenschaften auskommen: Humanexperimente, Geburtenkontrolle, Apparatemedizin, Organtransplantation, Sterbehilfe, bio- und gentechnische Eingriffe an Mensch, Tier und Pflanze, Eingriffe in das Ökosystem.

Diese Aufzählung von Bereichen menschlichen Handelns, die eine ethische Reflexion unseres Umgangs mit Leben erfordern, erweitert sich aufgrund der wissenschaftlichen Forschung und des technischen Fortschritts rasch und stetig. Manche glauben, daß diese Entwicklungen in die Katastrophe führen, sie halten diese Entwicklung für unumkehrbar. Dennis Meadows, der Verfasser der „Grenzen des Wachstums“, antwortete auf die Frage, wieviel Zeit noch bliebe, den eingeschlagenen Weg zu verlassen: „Es ist bereits zu spät.“

Diese Janusköpfigkeit der Technik ist seit langem bekannt: In der Antike war sowohl das Wissen um die technischen Fähigkeiten des Menschen vorhanden als auch die Erkenntnis, dass sich diese Fähigkeiten mit dem Willen zum Guten, mit der Moral verbinden müssen. Als René Descartes zu Beginn der Neuzeit die Wissenschaft neu definierte, machte er die Moral zur Dienerin der Wisssenschaft. Erst mit Immanuel Kant, auf dem Höhepunkt der Aufklärung kehrt sich dieses Verhältnis wieder um.

Im 20. Jahrhundert rückt der Begriff der Verantwortung in das Zentrum der ethischen Diskussion. Albert Schweitzer entwirft das Konzept einer Ethik der „Ehrfurcht vom dem Leben“, die von dem Grundsatz ausgeht: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“. Hans Jonas spricht in „Dem Prinzip Verantwortung“ sogar von einer kosmischen Verantwortung für die gesamte Menschheit.